Die Illusion der Objektivität

Warum wirklich ALLES subjektiv ist.

Wir halten uns gerne für objektiv. Politiker reklamieren für sich, die Realität klar zu sehen. Im Gegensatz zur Gegenseite natürlich. Führungskräfte erwarten von Mitarbeitenden eine rein sachliche Analyse. Medien versprechen neutrale Berichterstattung. Doch was, wenn Objektivität gar nicht möglich ist? Jeden Tag erleben wir hitzige Debatten über Führungsversagen, Vertrauenskrisen und Kompetenzmängel, erleben wir Menschen, die glauben – wirklich glauben! -, die objektiv richtige Wahrheit auszusprechen. Von der eigenen Bubble verifiziert. In Talkshows, am Stammtisch oder auf Social Media – überall wird leidenschaftlich darüber gestritten, wer Recht hat.

Nehmen wir die aktuelle Diskussion über politische Führung. Der eine sieht Olaf Scholz als ruhigen Krisenmanager, der mit besonnener Hand durch turbulente Zeiten steuert. Für andere ist er visionslos, kommunikationsscheu und zu abgehoben, um die Probleme des Landes zu lösen. Robert Habeck? Die einen halten ihn für einen mutigen Veränderer mit wirtschaftlichem Verständnis, andere sehen ihn als ideologiegetriebenen Politiker, der den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdet. Und Friedrich Merz? Manche sehen ihn als den starken Mann, der der CDU Profil und Richtung gibt. Andere halten ihn für ein Relikt vergangener Zeiten, das den gesellschaftlichen Wandel nicht verstanden hat. Das gleiche Dilemma erleben Führungskräfte in Unternehmen. Manche Mitarbeitende loben ihre Chefs für ihre Gelassenheit, während andere genau das als mangelndes Engagement kritisieren. Wer hat nun Recht?

Niemand – und gleichzeitig alle. Denn jede Bewertung basiert auf subjektiver Wahrnehmung. Das ist keine Schwäche, sondern eine menschliche Grundbedingung. Unser Gehirn verarbeitet nicht einfach neutrale Daten, sondern interpretiert sie – basierend auf Erfahrungen, Werten und Annahmen.

Wir fordern Objektivität – doch die gibt es nicht

Wie schön wäre eine Welt, in der es ein eindeutiges Richtig oder Falsch gibt. So einfach wäre es dann, sich zu verhalten, Recht zu haben, mit sich im Reinen zu sein, Anerkennung zu erhalten. Ich müsste nur alle Regeln befolgen und schwupps: Erfolgreich. Die Last des Denkens und Entscheidens läge bei anderen. Ein Träumchen. Ein Albträumchen, denn diese Welt ist möglich. Nennt sich Diktatur. Klarer geht es nicht. Egal ob von links oder von rechts kommend, der Irrglaube an die Objektivität der Wahrnehmung pflastert den Weg zur Hölle. Die Spaltung der Gesellschaft nimmt immer mehr zu und jede Seite wähnt sich im Recht, verhöhnt die andere als unwissend, falsch, verblendet. Bei aller Sympathie für die vielen Hundertausende, die für unsere Demokratie auf die Straße gehen, was da an bunten Hassbotschaften auf brauner Pappe zu lesen war, war schon auch beängstigend und wahrscheinlich ist den Träger:innen die Verhaltensähnlichkeit zur Gegenseite nicht einmal bewusst. Blöderweise funktioniert unser Hirn auch noch so, dass es die Informationen, die der eigenen Sichtweise entsprechen, viel schneller verarbeitet, als solche, die ihr widersprechen. Wir alle sind voller Vorurteile und das ist gut so, weil wir sonst gar nicht in dieser komplexen Welt funktionieren könnten. Gefährlich wird es, wenn wir die Bereitschaft verlieren, unser Schubladendenken zu hinterfragen, wenn wir vergessen, dass unsere Schubladen eben nur unsere Schubladen sind und keine allgemeingültigen Kriterien zur Wirklichkeitssortierung.

Subjektivität ist unvermeidbar, weil wir die Welt nur durch unsere individuellen Filter wahrnehmen können. Diese Filter bestehen aus:

  • Unseren persönlichen Erfahrungen: Alles, was wir erlebt haben, beeinflusst, wie wir neue Situationen bewerten: die berühmte Katze, die sich den Hintern am Ofen verbrennt und daraufhin beschließt, nie wieder zu sitzen.
  • Unseren mentalen Modellen: Wir alle haben Glaubenssätze, ganze Glaubensgebäude uns selbst und die Welt betreffend, die unser Denken prägen – meist unbewusst.
  • Unserem Werte- und Normensystem: Geprägt durch Familie, Kultur und Gesellschaft, oft über Generationen tradiert und der bewussten Reflexion nicht mal eben zugänglich.
  • Unsere momentane Konstitution: Wer schon einmal eine depressive Episode durchlebt hat, weiß, wie krass sich die eigene Verfassung auf die Wahrnehmungsfähigkeit auswirken kann. Wer schon einmal einem müden Kind oder einem hungrigen Mann begegnet ist, auch.

Diese Faktoren beeinflussen, welche Informationen wir aufnehmen, wie wir sie interpretieren und welche Schlüsse wir daraus ziehen. Das führt dazu, dass zehn Menschen denselben Vorfall beobachten und elf unterschiedliche Berichte dazu liefern.
Wir können uns also niemals vollständig auf unsere eigene Wahrnehmung verlassen – und dennoch treffen wir auf ihrer Grundlage ständig Entscheidungen. Wie denn auch sonst?

Vor allem, wenn es um das Thema Leistungsbeurteilung geht, sehen wir, wie viel Mühe, Zeit und Geld in Firmen investiert wird, um zu objektiven, vergleichbaren Ergebnissen zu kommen. Die Leistung der Mitarbeitenden wird in Zahlen, auf Skalen ausgedrückt, Ziele sollen messbar sein, Umfragen erheben, wie gut oder schlecht eine Führungskraft ist. Alles ganz objektiv – oder etwa nicht?

Versteht uns nicht falsch: wir sind sicher nicht gegen ausgereifte Feedback- und Leistungsbewertungs-Prozesse mit dem Anspruch, fair, transparent und nachvollziehbar zu sein. Im Gegenteil. Wir erachten sie als unerlässliche Tools. Aber wie heißt es so schön? A fool with a tool is still a fool. Egal, wie viel Mühe wir uns geben, objektive Kriterien zu finden, diejenigen, die die Fragebögen und Checklisten ausfüllen bleiben subjektive Wesen. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Im Bezug auf Führung heißt das: Es braucht den Dialog! Es braucht das Gespräch! Es braucht Zeit, damit Führungskraft und Mitarbeitende ihre jeweilige Subjektivität offenlegen und abgleichen können.

In unseren Seminaren erleben wir immer wieder, wie hungrig die Menschen nach Feedback sind. Immer auch ein bisschen angstvoll, doch in erster Linie neugierig. Und dann passiert immer wieder folgendes: Ein Mensch gibt einem anderen eine Rückmeldung darüber, wie er ihn erlebt. Ganz subjektiv. Und der andere antwortet mit „Das siehst du richtig/falsch, weil…“ Schnapp. Objektivitätsfalle zu. Chance vertan. Beziehung geschädigt. Warum? Schauen wir uns an, was hier passiert: Eine Person teilt einer anderen Person ihre Sichtweise mit. Damit macht sie sich angreifbar, verrät viel über ihr eigenes Wertsystem, lässt eine ganze Menge Kontakt zu und riskiert, dass sich das Denken und Fühlen der anderen aufgrund der neuen Informationslage verändert. Das braucht Vertrauen und Mut. Wenn sich diese Person ihrer eigenen Subjektivität bewusst ist, dann gibt sie kein Urteil ab alla „So bist du“ sondern lediglich eine Information „So sehe ich dich jetzt gerade“. Welch ein Geschenk! Diese Sicht zu objektivieren, damit sie als richtig oder falsch betitelt werden kann, ergibt nur wenig Sinn. Macht es vielleicht weniger brisant, wenn ich etwas höre, was mir nicht gefällt, ändert aber die Sichtweise der anderen nicht. Ein schlichtes „Dankeschön“ wäre besser gewesen. Oder auch ein ehrlich interessiertes „Spannend, erklär mir das…“ Dann könnte die Beziehung eine neue Tiefe erreichen und es wäre noch mehr Raum für den ehrlichen Austausch von Sichtweisen möglich und damit für fachliche und persönliche Entwicklung, womit wir endlich beim Thema Führung angekommen wären.

Eine Situation zu kreieren, in der ehrliche subjektive Rückmeldungen möglich sind ist Aufgabe der Führungskraft und es ist DIE Aufgabe der Führungskraft, ihren Mitarbeitenden die eigene Sichtweise auf sie und ihre Performance zur Verfügung zu stellen. Viele Führungskräfte gehen davon aus, dass ihre Mitarbeitenden gar keine Rückmeldungen wollen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die meisten Menschen möchten wissen, wie sie gesehen werden. Aus unserer (subjektiven) Sicht darf das Feedback der Führungskraft nicht zum Ziel haben, dass der Mitarbeitende sich kritiklos anpasst. Es geht darum, die eigene Wirkung besser zu verstehen. Daher sollten Führungskräfte das Recht auf Feedback auch nicht bei sich bunkern, sondern großzügig verteilen. Je mehr Peer-Feedback im Team passiert, desto vollständiger wird das Selbstbild eines jeden. Und nicht nur im Team, auch übergreifend. Kunden haben eine Sicht. Nachbarteams haben eine Sicht. Selbst scheinbar völlig unbeteiligte haben eine Sicht. Und jede Sicht ist in sich wertvolle Information. Diese zu bewerten und daraus zu extrahieren, was mich weiterbringt, ja, das obliegt dann wieder jedem selbst.

Führung bedeutet, verschiedene Wahrnehmungen zu berücksichtigen

Gute Führung – sei es in der Politik oder in Unternehmen – besteht nicht darin, eine vermeintlich objektive Wahrheit durchzusetzen, sondern darin, möglichst viele Perspektiven zu erfassen und zu gewichten.

Das bedeutet:

  • Sich selbst hinterfragen: Welche blinden Flecken habe ich? Wo beeinflussen meine Vorurteile meine Entscheidungen?
  • Andere Perspektiven einholen: Was sehen meine Mitarbeitenden oder Bürger, was ich übersehe?
  • Widersprüche aushalten: Unterschiedliche Wahrnehmungen sind nicht das Problem, sondern die Basis für kluge Entscheidungen.

Gute Führungskräfte und Politiker wissen, dass sie ihre eigene Sichtweise nicht für die einzig wahre halten dürfen. Stattdessen hören sie zu, stellen Fragen und wägen ab.

Wenn wir verstehen, dass unsere Wahrnehmung immer subjektiv ist, wird auch Feedback neu bewertbar. Denn Feedback ist nichts anderes als eine andere subjektive Wahrnehmung – und damit unersetzlich für Entwicklung.

Wer nicht regelmäßig seinen Mitarbeitenden die eigene subjektive Sicht auf deren Fähigkeiten, Engpässe und Ziele offenlegt und darüber in einen Dialog eintritt, verdient den Namen Führungskraft nicht. Die größte Stärke einer Führungskraft – ob in Politik oder Wirtschaft – ist nicht, die Wahrheit zu kennen, sondern zu akzeptieren, dass es verschiedene Wahrheiten gibt. Ob das, was wir entscheiden, richtig ist, das kann letzten Endes nur die Zeit zeigen.